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Gibt es Songs, die nicht in den Unterricht passen? Eine Polemik

Gabriel Imthurn|4. September 2020

Die Verwendung von YouTube im Unterricht ist geprägt von einer gewissen Sorglosigkeit. Gibt es Grenzen zur Fahrlässigkeit?

Aus der Praxis: Gewünscht wird 500PS, von RAF Camorra. Die Lehrperson will ein Lyrics-Video von YouTube abspielen, was immerhin sicherer ist, als ein unbekanntes Video, wird aber von den Knaben überstimmt, welche das Originalvideo sehen möchten. Das Video wirkt. In der nächsten Stunde wird Gucci-Girl gewünscht.

Die beschriebene Situation könnte ja harmlos sein, wenn der Song 500PS sich inhaltlich nicht nur um PS-starke Karren kümmern würde. Neben den Karren geht es aber vornehmlich um Knarren, welche sich auch im Soundtrack bemerkbar machen. Sonst zeigt das Video noch driftende Superboliden im Neonlicht, aber auch gezeichnete dunkle Wesen, die durch eine science fiction Szenerie schweben.

de.wikipedia.org/wiki/RAF_Camora#

Unheimlich, zumindest für einige zarte Schüler-Pflänzchen. Immerhin, es sind keine sexistischen und pornographischen Details zu sehen.

Wenden wir uns dem Text zu. Genau da kommt man vom Regen in die Traufe. Ob das Niveau dieses Textes im Allgemeinen zu unterbieten ist, bleibe dahingestellt. Zeile 8: lippgloss am sibbi. Für Unkundige wie mich reicht ein Blick in Google: Lippenstift am Penis. Aus reiner Routine noch ein bisschen Gewalt mit der Glock – ah die Schüsse im Video sind wohl auch Routine – fehlen noch die Drogen. Die kommen später mit Kampfhund garniert.

Bin ich jetzt total blöde, dass ich mich über sowas aufrege? Oder gibt es doch Gründe, Schrott auf der Halde zu lassen und wenigstens nicht auch noch im Schulzimmer zu konsumieren?

Ganz unaufgeregt schreibt die Lehrperson auf mein aufgeregtes Mail, es sei gut, dass ich es nicht einfach schlucke, sondern mich melde. Ja, und sie hätte etwas gelernt. Sie werde die Videos jetzt im Voraus schauen. Wenigstens das. Bleibt zu hoffen, dass das Gucci-Girl durchs Raster der Lehrperson fällt.

Wo sind nun die Grenzen?

Nach der Polemik stellen sich einige Fragen:

  1. Wie kann mit Wünschen von Schülerinnen und Schülern umgegangen werden?
  2. Welche Verantwortung haben Lehrpersonen?
  3. Sollen Inhalte im Musikunterricht ausgeschlossen werden?
  4. Was tragen Videos von Pop-Songs zum ästhetischen Erleben bei?
  5. Welche Diskurse müssen in der Ausbildung für Musiklehrer zu diesem Thema geführt werden?

Wünsche von Schülerinnen und Schülern

Wurden die Wünsche von einer Lehrperson eingefordert? Wenn ja, muss an dieser Stelle gefragt werden, ob Vorgaben gemacht wurden. Im Minimum müsste klargestellt worden sein, dass in den Videos weder gewaltverherrlichende, rassistische, sexistische noch pornographische Elemente vorkommen dürfen, sei das in Bild oder Text. Dazu braucht es keine vertiefte fachdidaktische Auseinandersetzung, sondern es reicht normalerweise ein Blick in die Schulordnung. Das obige Beispiel wäre da schon im Sieb hängengeblieben. Eine weitere Frage stellt sich in Bezug auf die geplante Verwendung im Unterricht. Was wäre denn der Sinn und Zweck solcher Liederwünsche? Auch das scheint im obigen Beispiel nicht wirklich durchdacht zu sein. Und nicht zuletzt wäre es wichtig, wie Wünsche eingereicht werden können. Reicht ein anonymer Wunsch im Fragekasten?

Wenn der Wunsch von Schülerinnen und Schülern an die Lehrperson herangetragen wurde, ergeben sich weitere Fragen. Selbstverständlich gelten die Aussagen zu inhaltlichen Kriterien auch hier. Aus welchem Grund wird ein Lied in den Unterricht gebracht? Das kann sehr unterschiedlich sein und es braucht ein wenig pädagogisches Geschick oder Erfahrung, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Vielleicht ist es Interesse am Lied, vielleicht ist es der eigene Lieblingssong oder gerade ein Hit auf Platz eins. Vielleicht ist es aber auch eine Provokation, ein Test, wie weit man gehen kann. So wurde das Gucci-Girl aus dem Praxisbeispiel später zurückgezogen, weil der Schüler nicht vor der Klasse zu diesem Wunsch stehen wollte, nachdem die Lehrperson jeweils nachfragte, wer den Wunsch eingebracht hatte.

Bleibt noch die Frage, ob Wünsche von Schülerinnen und Schülern ein Thema im fachdidaktischen Diskurs der Musikpädagogik sind. Zuerst fällt da der allgegenwärtige Lebensweltbezug ein. Ja, wenn Schüler deutschen Gangster-Rap mitbringen, ist tatsächlich die Frage, ob das ihr Lebensweltbezug ist. Ein Blick ins Internet zeigt, dass Songs wie 500PS extrem gut ankommen, bei den Partygängern – so vielleicht ab 16, oder doch schon mit 10 in der vierten Klasse? Im musikpädagogischen Diskurs hat sich der Begriff Schülerpraxen eingebürgert. Es würde sich im Praxisbeispiel also um eine Hörpraxis handeln. Unter welchen Umständen diese im Musikunterricht integriert werden könnte, muss nun diskutiert werden.

Einige Fragen bleiben offen, sollen aber in einem späteren Blog-Beitrag diskutiert werden. Momentaner Stand bezüglich Fahrlässigkeit: In einer neuen Klasse einen Schülerwunsch ohne Vorbereitung zu zeigen, ist auf jeden Fall fahrlässig! Noch fahrlässiger ist es allerdings, das Video nach 20 Sekunden nicht zu unterbrechen.

Bibliographie:

Gabriel Imthurn

Leiter der Professur für Musikpädagogik im Jugendalter (PH FHNW)

Adresse:

Bahnhofstrasse 6
5210 Windisch

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